'Tüte mich ein' by Olga Hohmann
Tüte mich ein!
„Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere, glauben wir wenigstens, hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. ‚Es denkt‘, sollte man sagen, so wie man sagt: ‚es blitzt‘. Zu sagen ‚cogito‘, ist schon zu viel, so bald man es durch ‚Ich denke‘ übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis“ (Lichtenberg, Sudelbuch K, Nr. 76)
Ein Kleid kommt selten allein. Hat man erstmal eins folgt meist ein weiteres - und dann noch eins und noch eins. Kleider machen nicht nur, wie man sagt, Leute, sie machen auch süchtig.
Ein schönes Kleid ist für die Ewigkeit, meint man - und doch hat es eine gewisse Halbwertszeit. Es ist ein Erinnerungsträger - und so erinnert es einen zuweilen daran, dass eine Zeit vorbeigegangen ist. Manchmal versucht man, es dennoch zu tragen, obwohl man spürt, dass sein Moment vorüber ist - und obwohl es scheinbar noch zu passen scheint, spürt man, dass es bereits zur Vergangenheit gehört. Auch wenn die Proportionen sich nicht verändert haben, schmiegt es sich nicht mehr um den Körper wie das einst der Fall war.
Auch wenn sie nur an der Kleiderstange- oder im Schrank hängen, altern Kleider - zum Beispiel, weil Licht auf sie fällt, im immer selben Winkel. Einige Stellen bleichen dann aus, so, als würden die Kleider wie Protagonist:innen ein Leben lang auf dem selben Teil einer Bühne stehen, im selben Winkel vom Scheinwerferlicht angeleuchtet. Sie spielen das selbe Stück ein Leben lang, en suite, Abend für Abend, Tag für Tag. Sie alle bleichen unregelmäßig aus, auf jeweils unterschiedliche Art. Eine Déformation professionelle, wie wenn das Gesicht von Lastwagenfahrer:innen nur von einer Seite braun gebrannt ist - oder faltig. Bei dem einen ist es der Ärmel, bei dem anderen der Kragen.
Manche der Kleider altern auch deshalb besonders drastisch, weil sie nie getragen werden. So wie das Gummi von Schuhsohlen bricht, wenn es nicht bewegt wird.
Was ein Kleid besonders schlecht altern lässt: Motten. Gegen die Motten kaufe ich mir nun Schlupfwespen, die sollen die Motten nämlich fressen. Aber wer oder was frisst dann die Schlupfwespen?
Das Problem mit den Motten teilen wir - so wie den Anfangsbuchstaben. Du erzählst mir, dass du deine Kleider nur noch in Kleidersäcken aufbewahrst, dass du gemeinsam mit deiner Familie durch die Wohnung gehst und dabei laut in die Hände klatschst. Eine nach der anderen, klatsch, klatsch, klatsch. Abends liege ich im Bett und frage mich, wie viele Lebewesen ich am Tag getötet habe.
Fast habe ich mich daran gewöhnt: Ich bin die Frau mit den Mottenlöchern in der Kleidung.
Aber: Die Flucht nach vorne hat sich erübrigt. Die Motten haben meine Wohnung übernommen, ich traue mich kaum noch hinein.
Man kennt das Szenario, ein Kleid für einen Anlass zu suchen. Aber: Nicht nur bestimmte Anlässe verlangen eine bestimmte Garderobe - einige Kleider sind so stark, sie haben einen so außerordentlichen eigenen Willen, dass sie regelrecht diejenigen Momente erschaffen, in denen sie getragen werden wollen - und können. Da, wo wir herkommen, fühlt man sich fast immer overdressed - so geht es mir zumindest. Und so versuche ich, Gelegenheiten zu schaffen, um mich schön anzuziehen.
Man feiert ein Fest, nur um ein Kleid tragen zu können - nicht andersherum.
Ich stelle mir vor: Eines Tages heirate ich vielleicht, nur des Hochzeitskleides wegen - ich heirate keinen Menschen, sondern das Kleid selbst. Und ich bin sicher nicht allein mit dieser Idee.
Man erinnert sich an bestimmte Momente im Leben wenn man einen bestimmten Geruch riecht, Backwaren zum Beispiel, wenn man ein spezifisches Licht sieht, orange oder hellgelb, oder wenn man unerwarteterweise auf eine bestimmte Art Architektur oder Flora trifft. Ganz besonders stark ist der Reiz der Erinnerung, wenn man ein Gericht zu sich nimmt, mit dem man einen Ort oder Menschen assoziiert, zum Beispiel jemanden, mit dem man verwandt ist. Es gibt Geschmäcker, denen die Qualität der Erinnerung schon eingeschrieben ist, und auf die sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Biographien einigen können, zum Beispiel verschiedene Arten heißer, milchiger Getränke - heiße Milch mit Honig, Sahlep, Horlicks oder einfach „hot chocolate“.
Wenn man diese Gerüche riecht, Geschmäcker schmeckt oder sich von diesem ganz bestimmten Licht blenden lässt, erinnert man sich häufig auch daran, welche Kleidung man getragen hat, in diesem wichtigen oder nebensächlichen Moment. Eine einzigartige Begebenheit oder ein vergessenes Ritual.
Aber was, wenn man sich nur an das Kleidungsstück erinnert, wenn das Kleid kein Signifikant ist für eine bestimmte bedeutungsvolle Begebenheit, sondern eben nur „es selbst“. Ein, wie es heißt, Ding-an-sich. Oder: An-und-für-sich.
Manche Kleider wirken nur von Weitem so, wie sie es, der Meinung der jeweiligen Designer:in nach, sollen. Man selbst nimmt das Kleid, das man trägt, nie in seiner Gesamtheit wahr - am Körper zerfällt es in Einzelteile. Man spürt den Kragen, man sieht den Ärmel, der in die heiße Milch getunkt wird - man spürt, wie sich jemand am Rockzipfel festhält. Die Ganzheit des Kleides ist immer imaginär: In jedem Fall „Tut-Es-So-Als-Ob“ - nicht nur wenn es um einen Akt des „Dressing Up“ geht, sondern vor allem auch wenn „Dressing-Down“ im Spiel ist.
Ich denke an die Ansagerin am Berliner Hauptbahnhof, die ich neulich (mein Zug hatte, wie immer, Verspätung) eine ganze Weile lang beobachtete. Sie sprach in ein kleines Mikrophon hinein und mit etwa drei Sekunden Zeitverzögerung schallte ihre Stimme durch die Bahnhofshalle. Eine ganze lange Acht-Stunden-Schicht verbrachte sie also damit, sich selbst zuzuhören. Das Phänomen der Fremdheit, mit der die eigene Stimme zu einem zurückkommt, war ihr vermutlich fremd. Manchmal denke ich, dass es mit der Erinnerung so ähnlich ist - sie kommt, verzerrt, zu einem zurück und ist einem dabei so vertraut, dass man sie häufig übersieht - oder überhört. So wie das Lieblingskleid, das einem den Körper verhüllt wie eine zweite Haut - es ist einem in seiner Unauffälligkeit besonders lieb. Auffallen tut es nur, wenn das Eis darauf tropft oder wenn man Schwierigkeiten dabei hat, es wieder auszuziehen.
Auch ein Kleid unterliegt einem gewissen Wiederholungszwang - man zieht es an und aus und wieder an, und manchmal ziehen andere es einem aus (an eher seltener, zumindest wenn man schon erwachsen ist). Manchmal erinnere ich mich, ein Flashback: Meine Mutter, eine Riesin, zieht mir das Kleid über den Kopf und ruckelt es links und rechts am Körper nochmal ein bißchen hoch und runter, „eintüten“ nennt sie das. Ich sträube mich und genieße es gleichzeitig und manchmal sage ich zu ihr, ein Imperativ: „Tüte mich ein!“
Wie ein Papagei wiederholt man zu Beginn eines Lebens die Dinge bis man selbst sprechen kann - und wiederholt die vergessenen Erlebnisse dann später häufig noch einmal. Erfahrungen, die man gemacht hat und von denen man vergessen hat, dass man sie gemacht hat. Sie stellen sich zuerst in Form von Geräuschen, Gerüchen und haptischen Erfahrungen ein. Manchmal gar nicht visuell, manchmal erst viel später auch in Bildern, Erinnerungsfetzen, die aufblitzen, wie Traumfetzen.
Manche Menschen erschließen sich ihre Welt, in dem sie tief eintauchen in die Unmittelbarkeit des Lebens. Andere Schwimmen und halten dabei angestrengt den Kopf aus dem Wasser. Wieder andere surfen auf der Oberfläche, als Smooth Operators. Andere, das heißt, die, die viel Geld haben, fahren lieber Wasserski. Manchmal denke ich, mein eigenes Leben ist eher ein bißchen wie ein kontinuierliches Schlittschuhlaufen auf einer verspiegelten Oberfläche, die jeden Moment einzubrechen droht.
In der Silvesternacht beschließen wir: 2024 ist „All in“ in und „Cringe“ out. Da „Cringe“ nun also offiziell, das heißt, beschlossenermaßen, out ist, kann man befreit tun was man will. Die individuelle Freiheit kann aber auch ein Problem werden, eine universelle Antriebslosigkeit.
„Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf den Tischen“ sagt man - aber was, wenn den Mäusen die Lust aufs Tanzen vergeht, wissend, dass niemand sie erwischen- und zurechtweisen wird. Vielleicht hat man gar keine grenzüberschreitenden, Impulse mehr, wenn diese Kategorie der potenziellen Bewertung, der potenziellen Peinlichkeit, wegfällt.
Schwimmen, Tauchen Surfen, Wasserski oder Schlittschuhlaufen sind also unterschiedliche Arten sich durch das Leben zu bewegen: Mutig mit dem ganzen Kopf unter Wasser, oder, Brustschwimmend manchmal einen Spritzer ins Auge bekommen, wenn jemand neben einem in hohem Bogen ins Wasser springt, die Beine angewinkelt, den Po zuerst. Oder immer an der Oberfläche entlang: Schlittschuh laufen auf einer verspiegelten Oberfläche, auf der man sich selbst immer wieder vorbeiziehen sieht, in großen Bahnen, immer im Kreis, immer im Kreisverkehr - an den anderen Schlittschuhläufer:innen vorbei oder allein auf weitem Eis.
Weißt du noch, dieser Jahrhundertwinter vor ein paar Jahren, als die Schwäne auf dem Kanal starben? Erst schrappten sie sich durch die gefrorene Wasseroberfläche, lange Bahnen durchs Eis, schrapp – schrapp – schrapp, unter den melancholischen Rapunzelhaaren der Trauerweiden entlang.
Irgendwann sah man die schneeweißen Körper dann leblos auf der halb gefrorenen Wasseroberfläche treiben, viele von ihnen. Menschen hatten den zugefrorenen Kanal genossen, hatten Sofas auf die Wasseroberfläche gestellt. Hockey spielen, Fahrrad fahren und Eis am Stiel, Mini Milk, auf dem Eis (oder „hot chocolate“) – und, besonders bescheuert, Feuerjonglage.
„Tüte mich ein“ denke ich wieder und dann an die Bilder der diesjährigen Met Gala, die „Cinderella“ zum Motto hatte. Bei der Met Gala muss den Stars auch in ihre Kleider geholfen werden: Manchmal sind es ganze Bäume oder Sträucher, die sich um Körper ranken, manchmal sind die Kleider aus Holz, mit eingelassenen Intarsien.
Man steht immer auf dünnem Eis - und manchmal bricht man ein und erinnert sich plötzlich schmerzlich daran, woher die Good Habits und Bad Habits eigentlich kommen. Meistens aus der Kindheit nämlich, aus der Zeit, in der uns noch in unsere Kleider geholfen werden musste. Und gerade Traumata haben die Eigenschaft, von den Traumatisierten wiederholt zu werden, identisch oder verzerrt.
Ich lerne: In den Spiegel schaut man um sich daran zu erinnern, dass man existiert, das heißt, dass man buchstäblich „noch da“ ist. Jeder Spiegel ist auf seine Art verzogen, wie eine zugefrorene Wasseroberfläche.
Vielleicht verliebt sich Narziss deshalb in sich selbst, als er sein Antlitz in der Pfütze erblickt - er ist einfach so überrascht, überhaupt da zu sein.
Denn: Es ist ja ohnehin ein ständiges So-Tun-Als-Ob. Niemand schwimmt ganz unbedarft, taucht, surft oder läuft Schlittschuh. Alle haben, auf ihre Art, Angst einzubrechen in dem dünnen Eis, für das wir alle zu schwer sind, unabhängig von unserem Körpergewicht. Unter Wasser trifft man Kreaturen, die man noch nicht kennt, und manchmal kitzeln einem Algen die Zehen oder wechseln, wie Bioluminescence, die Farbe, wenn man sie berührt. Und selbst beim Brustschwimmen kann es passieren, dass einem jemand vom Beckenrand auf den Kopf hüpft.
So, wie das Eis, auf dem wir schwankend im Kreis laufen, bricht also auch die Erinnerung ein: Manchmal dann wenn einem ein Kleid um die Beine weht oder um den Bauch und man plötzlich wieder weiß, wie das war, als man sein Eis auf ihm verschmiert hat. Wer es einem ausgezogen - und wann man mal hinein geblutet hat - und wo. Und wer es gesehen hat. Zuerst ist da ein Gefühl, die Textur zwischen den Fingern, dann ein Geruch, ein Geschmack auf der Zunge - und erst ganz am Schluss weiß man wieder, welche Farbe es hatte: Das Grün von Pistazieneis - und wie es um den Körper fiel, welche Bewegung es beim Laufen machte, und ob die Schuhsohlen dabei ein bißchen quietschten.
Gestern Nacht spazierte ich durch einen Skulpturengarten. Fast keine der Skulpturen konnte ich im Dunkeln erkennen, aber ich spürte ihre Präsenz. Als würden sie sich hin- und her, vor und zurück wiegen. Bedrohlich und beruhigend gleichzeitig, hospitalistisch.
Plötzlich erinnerte ich mich an mein Lieblingsspiel als Kind: Ich bin eine Statue, die langsam zum Leben erwacht. Der Weg vom O-Platz (der den selben Anfangsbuchstaben hat wie wir) zu uns nach Hause (keine Straßenecke liegt dazwischen) dauerte manchmal viele Stunden, weil ich, etwa einen Meter hoch, zwischendurch immer wieder versteinerte.
Auch die Statuen in Florenz haben immer Standbein und Spielbein - Contraposto nennt man das.
Und die Heiligen in den Fresken haben ständig Visionen, Glauben und Aberglauben verschwimmen. Sie verbringen dann viel Zeit damit, dafür zu sorgen, dass die (Horror)Vision nicht eintritt - und führen sie damit herbei. Self Fulfilling Prophecies.
Ich erinnere mich: Wie mein Vater die Geduld verlor und mich, in meiner Versteinerung, vom Boden aufhob und nach Hause trug. Ich versuchte mir vorzustellen, ich wäre tatsächlich aus Stein, um so schwer zu sein wie möglich. Wie schlafende Kinder, oder betrunkene Teenager, die doppelt so viel zu wiegen scheinen wie im nüchternen oder wachen Zustand.
Humor ist eine Drehtür in alle Richtungen.
Und: Der überraschende Sinn im Unsinn.
Heute morgen fiel ein rohes Ei auf dich, es blieb ganz. Und letzte Woche fiel eine ganze Familie Enten vom Himmel in unseren Kreuzberger Hinterhof. Alle Küken watschelten unversehrt weg, nur eines mussten wir zu uns aufnehmen, denn es hatte sich den Fuß verletzt. Ich lerne: Es braucht jeden Tag mindestens eine 30-minütige Kuscheleinheit, sonst wird es krank. (So wie Menschen)
Unvergessen, es blitzt wieder in meinem Gedächtnis auf: Das Gefühl, von einem Erwachsenen „eingetütet“ zu werden. Wie riesige Hände einem den Pullover in den Hosenbund schieben, den Reißverschluss bis zum Hals zuziehen, die Kordel am Hals zu einer Schleife zubinden, ebenso wie die Schnürsenkel, und dann einen kleinen Rucksack in Pinguinform auf den Rücken gesetzt bekommen.
Unangenehm war es nur dann, wenn die Hände der Erwachsenen kalt waren - eiskalte Händchen, die sich von innen in die Kleidung schoben.
Unvergessen ebenfalls: Das Youtube Video von dem Pinguin, der mit einem Rucksack in Pinguinform auf dem Rücken in ein Fischgeschäft läuft, wo ihm frischer Fisch in jenen Rucksack gepackt wird.
O - du bist die einzige andere O, die ich kenne. O-der?
Ein rollender Buchstabe, tief und weich.
Weich, aber fähig andere zu überrollen - auf sanfte Weise.
Auch schreibend möchte ich rollen, immer im Kreis, immer im Kreisverkehr.
Man lernt, man verständigt sich durch Wiederholung.
Die Skulpturen im nächtlichen Skulpturengarten wippen vor- und zurück.
Unser O: Ein Gegenentwurf zu „Square People“ - ein Begriff aus der historischen Jazz Community.
„Square People“ sind begrenzt, gefangen im Viereck - sie können nicht über den Viervierteltakt hinaus denken, sie wippen im Takt.
Immer im Kreis, immer im Kreisverkehr auf dem verspiegelten Eis, in dem man sich immer nur im Vorbeifahren erkennt, verkennt - und dabei überrascht feststellt, noch da zu sein.
Du weißt ja, Glitzer ist jetzt verboten, wegen Mikroplastik. Ich hab aber einen geheimen Vorrat in meinem Keller, versteckt in meinen Mottenlöchern.